Bazarow und Naturwissenschaft



 

 Eine interessante Äußerung Bazarows beschrieb Turgenev in einem Dialog von Bazarow mit Pavel Petrovič im 6. Kapitel. Mit Bazarows Worten äußerte Turgenev großen Schmerz und Bitterkeit über die allgemeine wissenschaftliche Zurückgebliebenheit des Volkes: „Куда нам до Либиха! Сначала надо азбуке выучиться, а потом уже взяться за книгу, а то мы ещё аза в глаза не видали“. Um zu verstehen, dass damit mehr die allgemeine Volksaufklärung gemeint war, als der Wissenschaftler Liebig selbst, muss man auch dem Dialog Bazarows mit seinem Vater im 20. Kapitel Aufmerksamkeit schenken. Hier äußerte sich Bazarow sehr skeptisch in Bezug auf die Wissenschaftler Schenlein und Rademacher, die sein Vater seit Jahren verehrt hatte. Am Ende der Diskussion meinte Bazarow, dass er überhaupt niemandem vertraute: „Мы теперь вообще над медициной смеёмся и не перед кем не преклоняемся. – Как же это так? Ведь ты доктором хочешь быть? – Хочу, да одно другому не мешает.” Auf die Frage, wie man Arzt werden und die Heilkunde dabei auslachen kann, gibt es folgende Erklärung: die Medizin, die Bazarow lächerlich fand, basierte entweder auf einer mechanischen oder einer idealistischen Philosophie und unterschied sich nicht so sehr von „гадание на кофейной гуще“. Bazarow kritisierte diejenige Wissenschaft, die nicht auf wissenschaftlichen Experimenten begründet war und daher keine praktische Prüfung überstand. Im Gegenteil akzeptierte Bazarow nur die Medizin, die auf einer neuen, echten und praktisch-materialistischen Lehre basierte. Bazarows Experimente mit Fröschen, die ständig durch den Liberalen Pavel Petrovič verspottet wurden, war keine zufällige und künstliche Erfindung von Turgenev, sondern eine Zusammenfassung von konkreten Lebenstatsachen.

 Die Naturwissenschaften in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebten in Russland einen starken Entwicklungsaufstieg. Sie ergriffen alle Gesellschaftsschichten und wurden zu einem Muss des gebildeten Menschen. Sehr viele Schriftsteller der 60er Jahre wie Nik. Uspenski, V. Sleptsov, A. Levitov und M. Voronov waren studierte Mediziner und beschäftigten sich mit wissenschaftlichen Experimenten im Bereich der Anatomie. Es ist allbekannt, dass der Vater der russischen Physiologie, I. M. Sečenov, dessen Ansichten sich unter dem Einfluss von den russischen Naturwissenschaftlern formierten, seine bekannten Experimente ausgerechnet mit Fröschen durchführte. Seine Untersuchungen bewiesen, dass die Anatomierung von Fröschen, sowie alle andere praktischen Experimente ein unerlässlicher Bestandteil der eigenen wissenschaftlichen Forschung und der Selbstbildung ist. Nur die Leute, die zur russischen Wissenschaft feindselig und vertrauenslos waren, stellten die Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit von Bazarows Experimenten in Frage.

 Zusammenfassend ist es offensichtlich, dass Bazarow ein Experimentator war. Er kritisierte eine scholastische und vom Leben abgelenkte Wissenschaft genauso wie eine abstrakte, idealistische Philosophie. Bazarow stand auf der Seite der konkreten und handwerklichen Lehre und „простого ремесла“, die von dem einfachen Volk beherrscht werden konnten. In dieser Hinsicht trat er immer wieder als Aufklärer der Bevölkerung auf.

 

Bazarows Ansichten auf die Kunst

 

 In dem Artikel „По поводу „Отцов и детей“ schrieb Turgenev: „…я исключил из круга его симпатий всё художественное“ und „должен был именно так нарисовать его фигуру“. Er bemerkte dabei, dass „за исключением воззрения на художество, - я разделяю почти все его убеждения“. Aus dem Text des Romans folgt, dass Bazarow weder die Kunst an sich, noch ihre Ausprägungen akzeptierte, wie beispielsweise Poesie, Malerei und Musik. „Порядочный химик в двадцать раз полезнее всякого поэта“, „Рафаэль гроша медного не стоит“ – ähnliche Aussagen trifft man ziemlich oft in dem Text. Bazarow ironisierte und spottete über Nikolai Petrovič als er Cello spielte und Puškin zitierte und kommentierte es mit folgender Bemerkung: „и охота же быть романтиком в нынешнее время!“ Im Gespräch mit Odintsova erklärte er ihr ganz ehrlich: „Вы… не предполагаете во мне художественного смысла, - да во мне действительно его нет.“

 Manche Kritiker wie N. Strachov und M. Katkov erklärten dieses Phänomen damit, dass Bazarow eine sehr strenge Person sein sollte und „просто боится разнеживающего и размагничивающего влияния искусства“. Sie meinten, dass Bazarow die Kunst unter dem Einfluss vom eigenen Asketismus verneinte und sich vor der Kraft der Versöhnung in der Kunst fürchtete.[17] Die zweite Hypothese von Bazarows Verneinung der Kunst drückt vor allem die sozialen Faktoren aus. Bazarow wollte nicht nur deswegen keine Kunst anerkennen, weil er in jeder Art der Kunst den Sieg von Phantasie über den menschlichen Willen und auch die allgemeine Lebensversöhnung sah, sondern auch, weil die Kunst in den 60er Jahren unberechtigt an die erste Stelle von Poeten und Kritikern gestellt wurde, also höher, als alltägliche bürgerliche Probleme und wichtige politische Fragen, die eigentlich zuerst gelöst werden sollten. Zu der Zeit, als der Roman veröffentlicht wurde, war die Triumphale Demonstration der Theoretiker „Искусство для искусства“ bereits vorbei. An ihre Stelle kamen bürgerliche und publizistische Interessen der Gesellschaft. Auf den Seiten mehrerer Zeitschriften waren allerdings ständig Versuche unternommen worden, die Interessen der Jugend, die auf gesellschaftliche und politische Fragen gerichtet waren, auf ästhetische Fragen der „reinen Kunst“ umzuorientieren.

 Die nichtadeligen Demokraten wie Černyševski waren der Meinung, dass besonders in der schwierigen Zeit von sozialen Konflikten die Kunst nicht an erster Stelle stehen sollte, da es mehrere Bereiche gab, die zu der Zeit wesentlich wichtiger waren. Wenn Bazarow sich negativ über Schubert oder Puškin äußerte, richtete er damit seine Kritik weniger auf die Künstler selbst, sondern auf ihre Rollen in der Lösung wichtiger Fragen der Gegenwart. In der Handschrift strich Turgenev den früher vorhandenen Dialog vom Pavel Petrovič und Bazarow weg, was den Grund von Bazarows Verneinung der Kunst vollkommen erklärte: „Коли вы так строги к поэтам, то уже разумеется, живописцам, музыкантам и прочим художникам от вас пощады ждать нечего? – Не о пощаде реч, я в них пользы не вижу.“

 An erster Stelle standen für Bazarow die Naturwissenschaften, nur sie konnten seiner Meinung nach die sozial-politische Situation in Russland verbessern. Die Lösung der maßgeblichen Probleme der 60er Jahre, wie die Befreiung der Bauern, die Entwicklung der Naturwissenschaften, die Volksaufklärung und die philosophische Ideologie der Bevölkerung, mussten zunächst innerhalb der Gesellschaft vollzogen werden. Bazarows Ausführungen, welche die Meinung mehrerer Vertreter der neuen Generation zusammenfassten, hatten folgende Aussage: die Kunst, die die Begeisterung für das Schöne an die erste Stelle setzte, lenkte die Gesellschaft von dem Angehen bedeutenderer Probleme ab und propagierte eine sorgenfreie panegyrische Lebenseinstellung. Bazarows Worte „Рафаэль гроша медного не стоит“, hatten in diesem Fall folgende Bedeutung: wenn Rafael, den die Kunstanhänger so vergötterten, das Allerwichtigste im Leben sein sollte und alles andere, wie Probleme der Aufklärung und das Streben zur gesellschaftlichen Entwicklung, übersteigt, dann braucht man keinen Rafael. Es war eine typische Reaktion von einem Vertreter der neuen Generation auf den Versuch, die Kunst zu fetischisieren. Bazarows Worte beweisen seine opportunistische Lebenseinstellung und Zuneigung zur Nützlichkeitstheorie. Was sich allerdings nicht bestreiten lässt ist die Tatsache, dass ihm mehrere Kunstwerke bekannt waren: er zitierte auswendig aus „The Brige of Abydos“ von Byron, erwähnte die englische Schriftstellerin Radcliffe und einen romantischen Helden einer Ballade von Schiller – den Ritter Toggenburg.

 Viele liberalen Ideologen wie P. Annenkov, A. Družinin, A. Tolstoi und A. Fet stellten die Kunst auf den ersten Platz. Turgenev hat ihre Ansichten überwiegend geteilt, was den Meinungsunterschied mit Bazarow in dieser Hinsicht belegte. Für Turgenev war die Kunst in den Jahren, als er „Väter und Söhne“ schrieb, sehr bedeutend und „сильнее самой природы“ – wie er es selber formulierte. Die Entwicklung von öffentlichem Gedankengut stellte sich Turgenev als Grund für einen möglichen Niedergang der Kunst vor. Diese Tatsache belegte auch die Meinung von mehreren studierten Naturwissenschaftlern der 60er Jahre: das Interesse für Kunst und für Ästhetik hielten sie für nicht mehr aktuell. Sie erkannten zwar die große Rolle der Schriftsteller und Maler in der Verbreitung der neuen öffentlichen Gedanken und in der Erziehung der neuen Weltanschauung an, waren aber überzeugt, dass die schöne Zeit der Romantik und der Kunst allgemein längst vorbei war. Von daher folgt die Replik von Bazarow im 9. Kapitel: „И охота же быть романтиком в нынешнее время!“ Büchners „Kraft und Stoff“ belegt ebenso folgende Ansicht: in seinem Werk schrieb er, dass in der Literatur „die Zeiten der Romantik“ endgültig vorbei sind. Auch die von den Romantikern verklärte Liebe hielt er im Grunde für einen „bloß physiologischen Vorgang“. Auch Büchners Meinung, dass „der Menschengeist ein Produkt des Stoffwechsels“ ist und „jedes lebendige Wesen vor allem ein „chemisches Laboratorium“ ist, so dass „Menschen- und Thierseele fundamental dasselbe“ sind[18] – entspricht der Meinung von Bazarow, der auch die Natur als „мастерская“ und alle Lebewesen als gleichaufgebaute Elemente betrachtete.

 Aus der Analyse von Bazarows politischen, philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Ansichten und seiner Beziehung zum Volk lässt sich ableiten, dass sein Charakter sehr wichtige und typische Züge der Jugend der 60er Jahre wiederspiegelte und auch viele materialistische Ansichten der deutschen und russischen Nihilisten vertrat. Wie es oben schon erwähnt wurde, war im Laufe des Romans sein Charakter einer Evolution unterworfen. Das Prozess und die Folgen dieser Evolution werden im folgenden Abschnitt erläutert.

 


Дата добавления: 2019-09-13; просмотров: 117; Мы поможем в написании вашей работы!

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